Lieber Daniel, liebe Mimi, liebe Margrit Oertli, liebe Gäste
„Zeig mir die Rose im Asphalt“, sang einst ein Sänger.
Daniel Stiefel zeigt uns ihr Blühen und Welken und so Vieles dazwischen. Es ist, wie wenn ein wildgewordener Bergbach uns Lauschenden die Weltgeschichte vorwärts und rückwärts erzählt, eine Reise durch eine dichte Abfolge ineinander verschachtelter Träume. In der Leichtigkeit, in der sie Welten in einen Hauch flüchtiger Farbe packen, erinnern mich die Werke an ostasiatische Tuschemalerei.
Daniel Stiefel hat den Asphaltlack entdeckt, ein Medium, das in seinem Flussverhalten dem der Tusche sehr nahekommt, darüber hinaus aber noch den Komfort des „Malens mit der Reset-Taste“ bietet: mit Terpentinersatz lässt sich Gesetztes entfernen oder rückwärts hell ins Dunkle malen.
Daniel Stiefel malt mit seiner ganzen Leidenschaft, wie ein japanischer Kalligraph, der die Nacht zum Tag macht, doch den Pinsel hat er weggelegt: er malt mit den Fingern, Kanten und Flächen seiner gummibehandschuhten Hände, malt mit dem Einsatz seines ganzen Körpers, geht ins grosse Format hinein, berührt das Bild, den Gegenstand des Erkennens, und entfernt sich, das hautnah Berührte, Ertastete, Umtanzte zu betrachten.
Es ist ein rauschhaftes Oszillieren in diesen Bildern, in denen Dinge und Lebewesen aus dem Verborgenen wie aus einem Traum aufblitzen, vibrierend, wabernd und gleichzeitig so staunenverursachend beinahe schon überwirklich real, dass man versucht ist zu glauben, das Imaginierte greifen zu können. Und wie beinahe überwirklich sind die Objekte beinahe überlebendig: Daniel Stiefel malt Dinge wie Lebewesen, sie stehen nicht still, sie atmen, es ist ihnen ein geheimes Innenleben eigen, einem Indianer oder archaischen Menschen gleich nimmt der Maler selbst einen Stuhl oder Schrank als beseeltes Wesen wahr, ein erzählendes Wesen, das eine Wahrnehmung hat, kommuniziert.
Mehr als perplex hören wir dem Lichtschalter zu, der geschwungenen Sessellehne, unvermittelt in einen Erfahrungsraum katapultiert, den wir in der Regel vom Alltag überlagern, zudecken lassen oder seit den fernen Tagen unserer Kindheit selten erinnern. Ausser in Augenblicken wie diesen meist vergessen die verschlungenen Pfade, auf denen die kleinen Dinge uns einst durch Märchenpaläste führten, in die Nacht verdrängt die Majestät des Traums. Wer ihn uns zeigt, wer uns in die Tiefe seiner Träume blicken lässt, reicht uns den Schlüssel zu den verborgenen Schätzen in uns.
Doch vielleicht hat sich die Tür Ihnen noch nicht geöffnet. Vielleicht sehen Sie Daniel Stiefels Bilder noch gar nicht, Sie stehen vor einem Rätsel aus Gesten und Flecken. Daniel Stiefels Malerei verbirgt sich oft dem ersten Blick, es braucht Zeit, geduldiges Hinschauen, in sie einzutauchen, bis plötzlich, mit einem Lidschlag, frappierend das Bild auftaucht: wie konnten wir es nur so lange übersehen? Und doch kann in einem Nähertreten, Sich-Entfernen das nun so klar und scharf Gezeichnete zurückkippen in ein Gewirr von Schriftzeichen, heftig hingeklatschten Linien, Flächen. Die Konzentration, die das Schauen erfordert, die Gleichzeitigkeit von Gestalt und Ungeformtem lässt uns erahnen, wie Daniel Stiefel sich durch seine Bilder bewegt, sich dem Geschauten nähert. Es ist ein von Augenblick zu Augenblick sich erneuernder Blick, ein Mitschwingen mit jedem Windhauch der Veränderung, ein Haschen nach diesem Wind, ein Fluss ohne Ende. Es ist ein sich wiegender Bambus, der unverrückbar in zwei hier nicht vertretenen Bildquadraten steht.
Wo sich Gegensätze so sichtbar berühren und vereinen, wo uns offenbar wird, wie sie auseinander hervorgehen, müsste man wie ein Zenmeister sprechen – oder schweigen.
Für Leonardo da Vinci ging alle Inspiration von einer fleckigen alten Hausmauer aus. Alle Bilder waren ihm darin enthalten. Charles Baudelaire, den Dichter, brachte dieselbe fleckige Wand zur Verzweiflung, wo denn die Berechtigung der Kunst noch sei, fragte er sich, wenn so etwas Zufälliges alle Visionen umfasse. Es gebe kein Objekt, in das sich nicht alles projizieren lasse, wusste C. G. Jung, und doch sind Daniel Stiefels Bilder, selbst wenn er mir auch eine Projektionsfläche zeigte und wir seine Bilder miterschaffen und oft gleichzeitig mit seinen auch noch eigene Bilder hervorbringen, anders: sie sind die ganz klare Spur seiner Wahrnehmung. Die wird sichtbar, wenn auch zuweilen auf Umwegen, auf denen wir Anderes sehen. Es ist kein beliebiger Stuhl und kein beliebiger Stein, der uns den Blick so weitet mit seinem ganz spezifischen Sein. Doch wir blicken staunend noch auf das Gewöhnlichste, weil wir es mit der Intensität des Malers sehen, mit seiner flammenden Wahrnehmung, die dem bildnerischen Ringen innewohnt, es verursacht und sich an ihm schärft. Wie oft ist es ein Griff ins Nichts oder Daneben, wie unnahbar ist die Wirklichkeit, wie lässt sie uns zweifeln, jemals etwas zeichnen, malen oder sagen zu können.
Einen grossen Apfel auf einem Tisch sah ich im Brokatmantel eines Modells – nur Daniels Hinweis und ein Stück Nacken, ein wenig Haar liessen mich die Frau erkennen. Wenn seine windschiefen Häuser ächzen, sich die Balken eines Schiffsrumpfs biegen, ein Fluss nicht nur glitzert, sondern fliesst und wir in seinem Glitzerwasser gleichzeitig die sonnenbeschienenen, vom Wind bewegten kleinen Blätter eines Baumes träumen, um wie viel lebendiger noch malt Daniel Stiefel die Lebewesen! Von nahezu magischer Präsenz sind seine Tiere, ob es Hunde, Pferde, Vögel oder Fische sind. Wann hat mich ein Tier so angeschaut wie diese Krähe, die, halb zerzaust, sich nach mir umdreht, mich mit ihrem grossen schwarzen Auge fixiert? Wann hatte ich den Mut, mir die gespannte elegante Kraft dieser wölfischen Hunde so nahe kommen zu lassen, sie stürmen mir entgegen mit loderndem Blick, jeder Muskel in Aktion, sie jagen über den Bildrand hinaus, türmen ihre Muskelpakete und gut sichtbaren Sehnen zu explosiven, pulsierenden Sprungkörpern, auf der Jagd oder zum Sprung bereit, jede Bewegung der malenden Hand, jedes Licht, jeder Schatten von diesem Hündischen geladen, ich kann ihren Schweiss riechen, ihr Kläffen hören, bin überwältigt von ihrer edlen Schönheit, in der hochgezüchtete Eleganz mit Wildheit sich vereint, zähnebleckend und doch, in all der geballten archaischen Wucht, bestechend sanft. Wo sähe ich sonst die vielen Seelen in ihrer Brust – von der tollen bis zur gezähmten? Fische, leuchtend und plastisch, wie Saurier so gross, unendlich fremd. Durch die schuppige Haut meint man die Gräten durchscheinen zu sehen, wähnt sich im Meer. In keinem Fischbauch, in keinem Aquarium ist mir so etwas begegnet. Sie scheinen mehr noch als mit ihrem geöffneten Mund mit dem Körper zu reden, mit jedem Zucken ihres Bauchs, mit den durchs Wasser steuernden Flossen. Die Pferdeköpfe vornehm und kraftstrotzend wie die Hunde – und auch hier dieses Fremde, ganz Andere, Unergründliche. Im vermeintlich Vertrauten etwas so Unerforschtes, als gäbe es keine Sättel, Hufeisen, Geschirre. Da bleibt etwas von unserer Sehnsucht nach dem Unberührten, Unberührbaren, auch wenn das Pferd längst gezähmt und das Bild gemalt ist. Rossköpfe wie Wesen von einem anderen Stern, weit, weit von allem bekannt Scheinenden entfernt und bange Sekunden lang auch schreckerregend in ihrem Nicht-Menschsein. Eine Katze, deren flackernde Augen aus einem Traumfragment funkeln, ein Katzenkönig...
Und die Menschen? Hier versagen die Worte... Wo sich doch in einem Gesicht, einer Körperhaltung, im Spiel der Muskeln schon so viel Unsagbares abspielt, selbst wo sie nicht gemalt sind. Was lesen wir nicht alles in einen verkniffenen Blick, ein Stirnrunzeln, einen erhobenen Arm oder die Art, wie sich das Modell hinkauert? Sie sind uns denn doch näher als die Tiere und Gegenstände, die Menschen... und doch ebenso fremd. Jeder ein eigenes Universum, auch wenn wir von uns aus darauf schliessen zu dürfen glauben, was ein Mensch ist. Auch hier erfasst Daniel Stiefel den Augenblick, ein Augenzwinkern und in diesem Zwinkern ein Ganzes: einen Charakter, eine Lebensgeschichte. Vielleicht projizieren wir in den Menschen, in seine abertausend Gesichter, am leichtesten. Umso erregter sind wir, wenn sich in einem Gesicht ein Wirbel von Schriftzeichen, der Abgrund des Ungeformten öffnet. Fragil bleibt unsere Gestalt, auch wenn wir uns und unsere Masken zu kennen meinen, wir sind zu den Rändern und zur Mitte hin offen, eine leichte Verschiebung des Blicks, und wir sind uns unserer selbst ungewiss, „Je est un autre.“, notierte Arthur Rimbaud – „Ich ist ein Anderer.“ Wäre dieses Andere nicht, dieses Unvermessene, was bliebe uns zu entdecken? Allein, wir sind von Unbekanntem umgeben, wir sind das Unbekannte selbst.
Sie sehen die Bilder immer noch nicht? Dann wäre es hilfreich, die Gewissheiten fahren, den Blick schweifen zu lassen, ein Glas Wein zu trinken. Wie Freud wusste, fördert das „abaissement du niveau mental“ den Fluss der Assoziationen, und eines sind Daniel Stiefels Bilder mit aller Bestimmtheit: rauschig. Ein rauschendes Fest der Sinne und des mit allen Sinnen Erkennens. Ein Rausch des Berührens des Unbekannten. Und wenn das auch eitel und unfassbar und nicht restlos zu greifen, ein Haschen nach Wind ist: Träume kann man sich einprägen und erinnern, wenn auch nur fragmentarisch, und Träume lösen weitere Träume aus. Das Bild hat keinen Anfang und kein Ende, es steigt wie aus Nebeln auf, verdichtet sich, verweht... und formt sich neu.
Es ist dieses Vibrieren, Oszillieren der Vision, das den Maler so selten ruhen lässt: die Bilder und die verschlungenen Wege in die Bilder hinein, durch sie hindurch und darüber hinaus ziehen ihn mit sich fort, fort und weiter. Nur selten lädt ein Sessel oder eine Ausstellung zum Verweilen ein.
Geniessen Sie diesen Moment des Schauens. Lassen Sie das Feste fliessend werden. Lassen Sie sich fort und hinein und hindurch und darüber hinaus tragen. Lassen Sie den Rausch des Nichtwissens ihren Blick verzaubern und erweitern.
Suchen Sie nicht zu sehr, aber hören Sie nicht auf, das Schauen zu feiern.
Ich danke Ihnen.
Thomas G. Brunner
Zürich, 30. 7. 2012